Kognition und Mastikation – Wie das Kauen das Gehirn jung hält
Kauen ist ein unterschätzter neurobiologischer Schlüsselreiz. Über Muskeln, Nerven und Sinneszellen steht der Mund in direkter Verbindung mit den Zentren des Gehirns, die für Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Lernen verantwortlich sind. Die Orale Medizin zeigt, dass funktionelle Stabilität, gesunde Zähne und entzündungsfreie Strukturen wesentlich zum Erhalt kognitiver Leistungsfähigkeit beitragen.


Kauen ist Bewegung, Wahrnehmung und Biochemie zugleich. Jede Kaubewegung aktiviert über das trigeminale System sensorische Areale im Hirnstamm und im Hippocampus, dem Zentrum des Gedächtnisses und der Lernfähigkeit. Diese Verbindung zwischen Mund und Gehirn ist keine Metapher, sondern messbare Neurophysiologie. Studien zeigen, dass aktive Mastikation die Durchblutung des Hippocampus erhöht und die neuronale Aktivität in Gedächtnisarealen verbessert (Onozuka et al 2002).
Wenn die Kaumuskulatur gleichmäßig arbeitet, erhält das Gehirn rhythmische Impulse, die neuronale Netzwerke trainieren. Wird diese sensorische Stimulation reduziert – etwa durch Zahnverlust, prothetische Instabilität oder funktionelle Fehlbelastungen – verliert das Gehirn einen Teil dieses konstanten Stimulus. Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit reduzierter Kauleistung ein erhöhtes Risiko für kognitiven Abbau und Demenz aufweisen (Kondo et al 2015; Lexomboon et al 2012).
Zahnverlust ist dabei mehr als ein ästhetisches oder mechanisches Problem. Er verändert die kortikale Repräsentation des Mundraums, reduziert den sensorischen Input und beeinflusst motorische Steuerzentren. Gleichzeitig verändern sich Ernährungsgewohnheiten – ballaststoffarme, weiche Kost führt zu einer geringeren Versorgung mit Mikronährstoffen, die für Gehirnstoffwechsel und Neurotransmission essenziell sind.
Ein weiterer Faktor ist die Entzündung. Chronische Parodontitis setzt Zytokine wie Interleukin 6, TNF-α und CRP frei, die über den Blutkreislauf auch das Gehirn erreichen können. Diese sogenannten inflammatorischen Mediatoren stehen mit neurodegenerativen Prozessen in Verbindung und beschleunigen Mikroglia-Aktivierung und neuronalen Abbau (Leira et al 2017). Pathogene wie Porphyromonas gingivalis wurden im Gehirngewebe von Alzheimer-Patienten nachgewiesen (Dominy et al 2019). Die Mundhöhle wird damit zu einem potenziellen Ursprung stiller neuroinflammatorischer Prozesse.
Auch funktionelle Dysbalancen, etwa bei craniomandibulären Dysfunktionen, können neuronale Muster beeinflussen. Eine unphysiologische Bisslage, überaktive Kaumuskulatur oder permanenter Bruxismus aktivieren den Sympathikus und reduzieren die parasympathische Regeneration. Dieser „Stress im Kausystem“ wirkt über neuroendokrine Bahnen auf Schlaf, Konzentration und Gedächtnis. Studien zeigen, dass eine funktionelle Rehabilitation des Kausystems die kortikale Aktivität normalisieren und kognitive Parameter verbessern kann (Okayasu et al 2019).
Die Orale Medizin betrachtet daher Kognition, Mastikation und Entzündung als miteinander verknüpftes System. Diagnostik umfasst heute Funktionsanalysen, Muskelscreenings, 3-D-Okklusionsmessungen und mikrobiologische Tests. Ziel ist, funktionelle Balance, sensorische Stimulation und entzündungsfreie Gewebe wiederherzustellen.
Ein intakter Kauapparat unterstützt zudem die Ernährung – und damit indirekt das Darm- und Gehirn-Mikrobiom. Ballaststoffreiche, antioxidative Kost, die nur mit gesunder Mastikation verarbeitet werden kann, fördert die Darmflora und moduliert über die sogenannte Gut-Brain-Axis die neuronale Aktivität (Mayer et al 2015).
Kauen erhält also mehr als nur den Biss. Es erhält die Verbindung zwischen Körper und Bewusstsein. Ein funktionell harmonischer Mundraum stärkt Aufmerksamkeit, Gedächtnis und geistige Klarheit – und wird so zum biologischen Schutzfaktor gegen kognitiven Abbau.
Die moderne Orale Medizin versteht diese Zusammenhänge und nutzt sie präventiv. Durch die Wiederherstellung funktioneller Strukturen, die Kontrolle oraler Entzündung und die Pflege des Mikrobioms wird der Mund zum Zentrum mentaler Vitalität. Wer richtig kaut, trainiert nicht nur Muskeln, sondern auch das Gehirn – Tag für Tag, Biss für Biss.
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Onozuka et al. (2002): Activation of cerebral circulation during gum chewing. Journal of Dental Research.
Shoji et al. (2020): Chewing ability and cognitive function in the elderly. Gerodontology.
Kondo et al. (2015): Association between tooth loss and dementia. Journal of the American Geriatrics Society.
Lexomboon et al. (2012): Dental status and cognitive decline. Journal of the American Geriatrics Society.
Leira et al. (2017): Oral infections and cognitive decline. Frontiers in Aging Neuroscience.
Dominy et al. (2019): Porphyromonas gingivalis in Alzheimer’s disease brains. Science Advances.
Okayasu et al. (2019): Neuromuscular balance and cortical activation. Clinical Oral Investigations.
Mayer et al. (2015): Gut microbes and the brain. Journal of Physiology.
